Geschichten

Wie die Vögel das Zicklein retteten

Es war einmal ein Zicklein, klein, aber bockig, wie Zicklein eben sind. Alles sollte nach seinem Kopf gehen. Eines Tages kam ihm in den Sinn, einen langen Spaziergang zu machen. "Lauf nicht so weit fort", warnte die Mutter. "Wolken ziehen herauf, es gibt ein Gewitter." "Es gibt kein Gewitter", widersprach das Zicklein und sprang den Pfad entlang bis in den fernen Wald. Im Wald war es dunkel und wurde bald stockdunkel. Heftiger Wind schüttelte die Wipfel der hohen Kiefern. Eine große schwarze Wolke hing drohend über dem Wald. Plötzlich zuckte ein blendender Blitz auf, und ohrenbetäubend dröhnte der Donner. Halbtot vor Angst hetzte das Zicklein davon. Es glaubte Blitz und Donner jagten ihm nach, so blitzte und krachte es hinter ihm.
Endlich zerriss die große schwarze Wolke und goss einen fürchterlichen Regen herab. Kaltes Wasser rann in Strömen auf das Zicklein nieder, und das machte das es fortkam. Den Wald hatte es verlassen und sprang schon über eine Wiese. Kein trockenes Härchen war mehr an ihm, und es regnete und regnete. Als die Wolke all ihr Wasser ausgegossen hatte und der Himmel wieder hell wurde, stand Zicklein auf einer kleinen Insel mitten in einem See. Ringsum nichts als Wasser. Nur hier und da guckten ein paar Sträucherspitzen heraus. Bis zum Ufer war es weit. Zicklein konnte nicht schwimmen. Es musste auf Rettung warten, was blieb ihm weiter übrig?
Zitternd vor Kälte kauerte es sich nieder und wartete. Nicht lange, da ruderte, wer weiß woher, das Schwein in einem Boot vorbei. "Rette mich Grunzpeter", flehte Zicklein. "Nimm mich mit!" "Hab selber wenig Platz", grunzte das Schwein und schaukelte auf den Wellen an der Insel vorbei. "Solltest dich schämen. Hatschi!" nieste Zicklein hinterdrein, denn es hatte sich in seinem nassen Fell schon erkältet. Das Schwein fuhr davon, und Zicklein war wieder allein. Da tauchten am Ufer unerwartet zwei weitbekannte gierige Räuber auf: der Wolf und die Wölfin. Der Wind hatte den Geruch des nassen Ziegenfells zu ihrer Höhle getragen, und sie waren ihm bis zum Waldrand nachgegangen. Als erstes erblickten sie dort einen neuen See, mitten im See eine kleine Insel und auf der Insel das Zicklein.
"Schon lange haben wir kein frisches Ziegenfleisch genascht", sagt der alte Wolf. "Ein appetitlicher Happen", fand die Wölfin und leckte sich die Schnauze. "Wie aber kommen wir da heran?" wollte der Wolf wissen. "Wir könnten hinschwimmen, doch ich bade nicht gern vor dem Mittagessen." "Komm wir laufen flink zur Höhle und beraten uns mit den Brüdern!" schlug die Wölfin vor.  "Das Zicklein entwischt uns nicht, das Wasser fließt so schnell nicht ab." Die Räuber überlegten nicht lange und verschwanden im Gebüsch. Das Zicklein aber ahnte nichts Böses und blieb auf seiner Insel sitzen. Soll ich wirklich hier sterben? dachte es uns schaute sich besorgt nach allen Seiten um. Bald ist es Nacht, und niemand kommt und rettet mich.
Kraak, kraak! erscholl es plötzlich über ihm. Zicklein hob den Kopf und sah die Wildente Schnatterliese. "Kraak! Was machst du hier?" fragte Schnatterliese und zog über der Insel einen Kreis. "Siehst du das etwa nicht?" entgegnete Zicklein kläglich. "Ich sitze und warte auf Hilfe. Schwimmen kann ich nicht, fliegen kann ich nicht, und bis zum Ufer ist es zu weit." "Gut", sagte Schnatterliese, "hab nur Geduld und warte, wir werden dir schon helfen." Damit schwang sie sich in die Höhe und war schnell verschwunden. Das Zicklein ist in Not geraten! Wie der Wind eilte die Kunde durch die Wälder, über die Felder und Sümpfe ringsum.
Keine Stunde war vergangen, und schon hatten sich alle guten Tiere auf einer grünen Waldwiese versammelt. Die Hasen kamen angehüpft, die Biber zottelten heran, die Kraniche flogen herbei. Großvater Reiher brachte zwei Pelikane mit, die bei ihm zu Besuch waren, bevor sie nach dem Süden weiterreisten. Die Wildente Schnatterliese erzählte allen, wie sie bei ihrem Flug über die Wiese, die jetzt ein See war, das verlassene Zicklein entdeckt hatte. "Wir müssen ihm helfen", sagte sie zum Schluß. "Wir müssen ihm helfen", sagten die Hasen im Chor. "Wir retten es", sagten die Kraniche. "Wir helfen", sagte der Reiher und schaute die Pelikane an. Die nickten ohne ein Wort. "Aber wie?" fragte ein Storch, der eben erst herbeigeflogen war. "Wir zimmern ein Floß und holen damit das Zicklein von der Insel", schlugen die Biber vor. Sie waren Baumeister und immer schnell bereit, etwas zu zimmern. Sogleich machten sich alle an die Arbeit.
Die Biber nagten im Handumdrehen einen großen Baum durch. Ein zweiter fiel um, danach ein dritter. Die Hasen rupften säuberlich Zweige und Ästchen von den Stämmen, die Kraniche schleppten die Stämme ans Ufer und banden dort einen an den anderen. Jeder hatte etwas zu tun. Die Arbeit war in vollem Gange, da kam unverhofft ein Sperling angeflogen. "Eben habe ich das Zicklein gesehen", schilpte es atemlos. "Es weint. Es ist hungrig. Vom frühen Morgen an hat es nichts gefressen." "Wir müssen ihm Futter bringen", sagten die Hasen wie immer im Chor. "Futter müssen wir ihm bringen", stimmten die Kraniche ein. "Und genug Futter!" riefen die Biber, ohne von der Arbeit aufzusehen. "Aber wie?" fragte der Storch. Der Reiher sagte nichts, er blickte seine Freunde, die Pelikane, nur sehr vielsagend an. Sie verstanden ihn und sperrten ohne ein Wort die großen Schnäbel auf. Jeder von ihnen verwahrte im Kehlsack eine tüchtige Portion Fisch. Darum hatten sie auch die ganze Zeit über geschwiegen!
"Kraak! Zicklein fressen keinen Fisch!" rief die Wildente Schnatterliese. "Wißt ihr das etwa nicht?" Die Pelikane sahen einander an, schluckten den Fisch herunter und machten schnell ihre Kehlsäcke leer. Zwei flinke Hasen verschwanden und kamen gleich zurück mit frischen Mohrrüben und Kohlköpfen. Die Pelikane sperrten wieder ihre Schnäbel auf, füllten die leeren Kehlsäcke mit Gemüse, nahmen Anlauf und rauschten in die Luft, immer dem Sperling nach. Schon wenig später fiel das Futter dem Zicklein vor die Füsse. Wie es sich da freute! Die Pelikane aber kehrten zum Ufer zurück, wo mit unglaublicher Geschwindigkeit das Floß gebaut wurde.
Aber auch in die Räuberhöhle war man nicht faul. Hier wurden die Messer gewetzt, und das Wasser kocht schon in den Kesseln. Und drei der tollkühnsten Wagehälse, drei junge Wölfe, hatten sich drei dicke Baumstämme geschnappt und steuerten auf die Insel zu, wo das dumme Zicklein kläglich meckerte. Wie gut, daß die Bachstelze vorbeiflog und die Räuber bemerkte. Noch rechtzeitig erreichte sie den Ort, wo die Tiere das Floß zimmerten. "Schneller, Freunde, schneller!" zwitscherte sie und kreiste über den Bibern. "Das ihr es ja noch schafft! Die Räuber sind schon unterwegs!" Das Floß war fast fertig und wurde ins Wasser geschoben. Ein Augenblick noch, und es schaukelte auf den Wellen, trieb vom Ufer fort. Die Hasenmannschaft setzte das Segel. Stummelschwänzchen, der tapferste Hase, führte das Kommando. Zur selben Zeit erhob sich alles, was Flügel hatte, in die Luft. Zuerst flogen die Kraniche hoch, danach die Wildente Schnatterliese, der Storch und der Reiher. Sie verteilten sich über den Wald, ordneten sich zu einem Dreieck und nahmen Kurs auf die Insel mitten im See.
Die räuberischen Wölfe ruderten mit aller Kraft und redeten leise miteinander. "Es ist nicht mehr weit", sagte der eine. "Es ist gar nicht mehr weit." "Das Zicklein wird uns nicht entkommen", sagte der andere. "Es entkommt uns nicht." Gleich werden wir es packen", knurrte der dritte Räuber. "Gleich haben wir es." Aber es kam anders. Ehe sich die Räuber versahen, fiel die Vogelschar über sie her. Scharfe Schnäbel hackten in die Wolfspelze. Nach dem Kranich kam der Storch, nach dem Storch der Reiher. Die Räuber wussten nicht wohin, da flogen auch noch die Pelikane herbei. Sie flogen langsam, denn diesmal hatten sie Steine geladen. Die ganze schwere Last luden sie über den Wölfen ab. Das hielten die Räuber nun doch nicht aus. Sie zogen die Köpfe ein, heulten vor Schmerz, verloren die Ruder und fielen ins Wasser. Gern wären sie ans Ufer geschwommen, um ihre Haut zu retten, aber die langschnäbligen Vögel kreisten über ihnen und gaben nicht eher Ruhe, als bis der letzte Räuber für immer unterm Wasser verschwunden war.
Das Floß aber legte bei der Insel an. Zicklein war außer sich vor Freude, gab Stummelschwänzchen einen Kuss und umarmte herzlich jedes Häschen. Sie machten Feuer, damit Zicklein sein Fell trocknen und sich wärmen konnte. Wie Zicklein nach Haus zu den Eltern kam, soll hier nicht erzählt werden. Wir wollen nur verraten, dass es zwei Tage lang nicht auf seinem Schwänzchen sitzen konnte. Na, das war ja zu erwarten!
Am dritten Tag luden die Ziege und der Ziegenbock alle ein, die mitgeholfen hatten, Zicklein zu retten. Keiner wurde vergessen. Auch für den Spatz war gedeckt und für die Bachstelze. Auf dem Ehrenplatz saß die Wildente Schnatterliese, denn sie war dem kleinen Dickkopf als erste zu Hilfe gekommen. Da erschien plötzlich das Schwein. "Und wo ist mein Platz?" grunzte es schon an der Schwelle. Vater Ziegenbock aber antwortete streng: "Hier ist nur Platz für Tiere, die einander helfen. Sie, Nachbar, haben sich schlecht benommen!"
So musste Grunzpeter davonziehen. Im Haus von Vater Ziegenbock und Mutter Ziege jedoch ging es bis in die späte Nacht hinein lustig zu, die Gläser klangen und die Kohlstrünke knackten.
Hier fand die Geschichte ein gutes Ende - eine Geschichte, die beinahe sehr traurig ausgegangen wäre.
(Sergej Michalkow)

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