Geschichten

Die eigensinnige Pfeffernuss

Es war einmal eine Pfeffernuss, die wollte mehr sein als die anderen, mit denen sie aus dem Backofen in die Welt gekommen war, eine ganze Platte voll, zwanzig Reihen und in jeder Reihe zehn einzelne.
Der Bäcker wusste ganz genau wie viele das waren, er wusste auch, wie viel Honig und Zucker, Mehl und Gewürz dazugehörte und was er verdienen würde, wenn er sie alle verkaufte. So klug war der Bäcker. Als er die Platte in den Ofen schob, kam die linke Ecke zuerst hinein. "So ist es recht," dachte die Pfeffernuss, die dort auf der Ecke lag. "Nun bin ich die Erste," und die Hitze des Ofens buk diesen Gedanken so fest in sie hinein, dass sie ihn nie wieder los ward. Es war sehr heiß in dem Ofen, aber sie fühlten, wie sie äußerlich und innerlich besser wurden. Innerlich wurden sie gar, - sie waren ganz roh vorher - und äußerlich braun und blank, während sie vorher voll Mehlstaub saßen und hübsch glatt und rundlich, genug, sie waren kaum wiederzuerkennen, als der Bäcker sie herauszog. "Die werden schmecken," sagte er. "Was das wohl ist?" dachten die Pfeffernüsse und freuten sich darauf, dass sie schmecken würden.
Nur die eine Pfeffernuss oben in der linken Ecke brummte: "Ich will nicht schmecken, das überlasse ich den anderen. Ich bin die Erste". "Sagtest Du was?" fragte die nächste Pfeffernuss aus der zweiten Reihe. Die Pfeffernuss in der Ecke antwortete gar nicht. War die andere auch eine Erste, war sie doch eine Reihe unter ihr und der Abstand zu groß; sie hielt sich zu gut, mit einer Niedergeborenen zu sprechen. Nach einer Weile löste der Bäcker die Pfeffernüsse ab und tat sie in eine spiegelblanke Trommel. Alle sprangen sie willig von dem Blech ab, bis auf die eine - die war eigensinnig und wollte nicht. Der Bäcker betrachtete sie und sprach: "Du hast mehr Hitze als die andern in deiner Ecke gekriegt, aber es ist nicht zu viel geworden, es geht noch." Dann nahm er ein Messer und schnitt sie mit einem Ruck los, so schwer sie sich auch machte. "Nun ist sie auch noch etwas ausgebröckelt," sagte der Bäcker, "ich muß sie wohl obendrein geben." Dann warf er sie zu den übrigen und klappte den Trommeldeckel zu. Es war freilich stockdunkle Nacht in der Blechtrommel, aber die Pfeffernüsse unterhielten sich recht gut miteinander und waren zufrieden. Sie kannten es ja nicht anders.
"Wenn es nur erst soweit wäre, dass wir schmecken," sagten sie, das war ihr Wunsch. "Warum stimmst du nicht mit ein?" fragten sie die Nuss von der Plattenecke. "Weil ich mich nicht mit euch gemein machen will." "Oho, du bist doch auch nur was wir sind." "Wie dumm ihr seid. Erstens war ich die erste im Ofen, zweitens habe ich  mehr Hitze gekriegt, als ihr..." "Du bist beinah verbrannt," rief eine mutige Pfeffernuss, die sich von solchen Vorzügen nicht blenden ließ. "Und dann werde ich "obendrein" gegeben, und das werdet ihr nicht." Da schwieg auch die mutige Pfeffernuss; die anderen waren längst mäuschenstill. So weit würde es doch keine von ihnen bringen.
Nach einiger Zeit wurde die Trommel geöffnet. Der Bäcker schüttete eine ganze Menge Pfeffernüsse auf die Waagschale. "Nur nicht so knapp," sagte eine Frau vor dem Ladentische. "Die Nüsse sollen an den Tannenbaum, und wir haben vier Kinder." "Ich habe schon reichlich gewogen," erwiderte der Bäcker, "aber eine geb ich Ihnen noch obendrein." Da legte er noch die Eck-Pfeffernuss auf die Waage. "Ach die ist ja angesengert und ausgebröckelt dazu." "Hängen Sie sie am allerhöchsten, da sieht es keiner. Und schmecken tut sie ebenso wie die andern." "Habt ihr's gehört?" fragte die Pfeffernuss, als der Bäcker sie in die Tüte schüttete. "Ich werde die aller - allerhöchste! Ihr seid doch ganz gewöhnliches Volk, nicht einmal angesengert und ausgebröckelt seid ihr. Pfui über euch." Die Pfeffernüsse blieben still und stumm, keine wagte die Anmaßende zurückzuweisen. Sie hatten ja auch weiter keine Bildung genossen, als die im Backofen und waren nicht oben links in der Plattenecke die Erste gewesen. Diese Tatsache konnte niemand bestreiten. Aber sie hofften doch unbeirrt, dass sie schmecken würden, das glaubten sie, das hatte der Bäcker gesagt und der hatte sie ja auch aus Teig gemacht.
Die Frau, die sie gekauft hatte, nahm eines Abends eine große Nadel und zog damit durch jede Pfeffernuss einen weißen Faden. Der Mann dieser Frau knotete den Faden zusammen und dann kamen beide und hingen die Pfeffernüsse an einen grünen Tannenbaum. "Die werden den Kindern schmecken," sagten sie. "Endlich," sagten die Pfeffernüsse. "Wenn doch die Kinder nur kämen." - Die vier aber lagen in ihrem Bettchen und schliefen. "Morgen ist Weihnacht," sagten sie beim Zubettgehen, "einmal müssen wir noch ausschlafen. Einmal!" Und das taten sie jetzt.
Während sie schliefen, zog der heilige Tag daher aus fernem Osten, aus weitvergangener Zeit. Ihm voran flogen Engel mit Flügeln so weiß wie der Schnee, vor denen versteckte sich böses Nachtgetier, Unholde und Gespenster. Dann folgten kleine Englein mit brennenden Kerzen in den Händen, sie auf die Weihnachtsbäume zu stecken und dann kamen Engel in Morgenrot und Lilienglanz, die sangen "Friede auf Erden" so schön, so schön! Und dann kam der heilige Tag, der war so herrlich, dass alle die Augen schlossen und sich vor ihm beugten. Der aber senkte sich in der Menschen Herzen und machte sie selig.
Als nun der Weihnachtsbaum brannte und sein Goldputz flimmerte, riefen die Eltern die Kinder herein. Da jubelten sie und sprangen über die Schwelle. Als sie den Tannenbaum sahen, sein Licht und seine Pracht, und die Geschenke darunter ausgebreitet, blieben sie stehen und ihre Augen öffneten sich weit und strahlend. Die Eltern hielten sie umschlungen und blickten herab auf die Kinder, in ihren Herzen war Weihnachtsseligkeit.
Die Pfeffernüsse an dem Baume hingen ganz still an ihrem Faden. Das Flittergold zitterte vor innerer Aufregung, sie aber schauten auf die Kinder. Denen also sollten sie schmecken. "O," sagte eine Pfeffernuss, "wenn ich dem kleinen Lockenköpfchen schmeckte, das da eben seine neue Puppe küsst, dann wäre ich glücklich." - "Und was meinst du, wenn der Knabe, der jetzt sein Steckenpferd einreitet, mich wählte? Er hat so niedliche weisse Zähne."  Ein Tannenzweiglein knisterte in einer Lichtflamme. Das hieß: "Wollt ihr wohl stille sein." Die Pfeffernüsse erschraken und schwiegen. Sie sahen nach, ob auch die erste Pfeffernuss den Verweis gehört hätte; sie konnten sie aber nicht entdecken; sie hing wohl zu hoch oben. Aber nicht die Pfeffernüsse allein sahen sie nicht, auch vor den spähenden Augen der Kinder war sie versteckt.
Als der Vater die Mutter fragte: "Wo bleiben wir mit der angesengten Abgebröckelten?" antwortete sie: "Oben im Baum, meinte der Bäcker." Die Nuss aber wollte ganz hoch hinaus und glitt wieder von dem Ästlein ab, über das der Vater sie hängte. Da rutschte sie in das Dickicht der Zweige und hielt sich fest. "So," sagte sie, "hier bin ich verborgen, niemand sieht mich und ich habe es besser als die andern. Ich will nicht geschmeckt werden, wie die." Und so kam es auch; sie behielt ihren eigensinnigen Willen. Als der Baum geplündert wurde, wie schmeckten da die anderen Pfeffernüsse, es war ein Vergnügen. Die Kinder freuten sich, die Eltern freuten sich, der Bäcker hatte sich schon gefreut. Der wusste ja im voraus, wie es kommen würde; am meisten aber freuten sich die Pfeffernüsse, denn es war ihre Bestimmung, dass sie zu Weihnachten schmecken sollten und ihre Pflicht. Und dies Bewusstsein erfüllte sie mit berechtigtem Stolz, mit so viel Stolz, als in eine Pfeffernuss hineingeht, und das war mehr als man ihnen zugetraut hätte.
So endeten sie zufrieden wie Weltweise und die Kinder sagten: "Sie schmeckten wunderschön!" Das war ihr Nachruf. Als der Tannenbaum abgeschmückt war, wurde er in einen Winkel des Hofes geworfen. Der Schnee hatte Mitleid mit ihm. Der sagte: "Hast Du kein Gold- und Silberpapier mehr an, will ich Dir wenigstens eine reine Decke geben." Da deckte er ihn mit weichen Flocken zu und die Pfeffernuss auch, die keines von den Kindern gefunden hatte.
Da war sie nun, verworfen, verschneit. Als Tauwetter ward, zertropfte der Schnee und leckte auf die Pfeffernuss. Wie ihr das unangenehm war, da sie doch in der Hitze erzogen wurde und es immer trocken gehabt hatte. Sie ward weich, und verlor ihre Form und so schwer ward sie, dass sie zuletzt von dem Faden abriss und auf die Erde fiel. Die Sperlinge kamen und pickten davon, schalten aber und sprachen: "Pfui über das Zeug. So schlecht wie das schmeckt, gibt es nichts auf der Welt. Ein Haferkorn auf dem Düngerhaufen ist zehnmal besser." Da ward die Pfeffernuss sehr traurig und es tat ihr leid, dass sie immer so eigensinnig und hochmütig gewesen war.
Alle andern hatten einen so schönen Nachruf gekriegt und ihr schimpften die Spatzen auf das Grab. Es waren aber noch Weihnachtsengel am Himmel zurückgeblieben, um Nachschau zu halten, ob auch wo ein Menschenkind den heiligen Tag verschlafen habe. Die drückten eine Regenwolke aus und der Regen nahm die Pfeffernuss mit all ihrer Traurigkeit hinweg. Da war auch sie zufrieden. 
(Wilhelmine Buchholz)

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