Geschichten

Der Räuberhase

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Lange vor dem Morgenkaffee wachte Wendelin auf. Er sprang aus dem BettHase und öffnete das Fenster. Sein Blick fiel auf das weiße Margeritenbeet. Und von den Margeriten sah er auf die feuerroten Heckenrosen. Und von den Heckenrosen auf die Glockenblumen hinter dem Zaum. Und von den Glockenblumen auf den Gänseblümchenberg.
Und von dem Gänseblümchenberg auf - nein, das werdet ihr nicht raten, worauf: Mitten auf dem Hügel saß ein Hase, der hatte Ohren, so lang wie Kohlblätter sind. Und das Wunderbare war: Zwischen seinen Ohren ging die Sonne auf: groß und rund und honiggelb. "Der Hase hält die Sonne fest", rief der Junge aufgeregt, rannte zu seinem Vater und schüttelte ihn aus dem Schlaf. "Ist denn das die Möglichkeit", murmelte der Vater und schlief wieder ein. "Ohne die Sonne wird es nicht Tag", schrie Wendelin dem Vater ins Ohr. "Und Mittag wird es nicht, und Mittagessen gibt es dann auch nicht und kein Kompott." Der Vater blinzelte, und seine linke Augenbraue zuckte.
Schließlich rappelte er sich aus dem Bett und schaute hinaus. Der Hase stand noch immer auf dem Hügel und hielt die Sonne fest. Der Vater brummte vergnügt:" Du brauchst keine Angst um die Sonne zu haben. Es sieht nur so aus, als hielte er sie fest. In Wirklichkeit steht der Hase auf dem Hügel, und die Sonne steigt hinter ihm am Himmel empor." "Stimmt das auch?" fragte Wendelin und zog die Stirn kraus. Da füllte der Vater ein Glas mit Wasser und stellte es aufs Fensterbrett. "Schau mal ins Wasser!" sagte er. Wendelin blickte hin. Die Sonne blitzte in dem Wasser wie ein schöner Edelstein. "Hier ist die Sonne sicher", lachte der Vater. "Da kann auch ein Räuberhase nicht ran.
Du brauchst jetzt nicht mehr aus dem Fenster zu sehn!" Wendelin hüpfte in die Kissen und starrte von dort die Sonne in dem Wasserglas an. Das wäre geschafft, dachte der Vater erleichtert und zog zufrieden das Kissen bis zur Nase hinauf.
Kurze Zeit danach schob sich eine kleine Wolke vor die Sonne, und das Glitzern in dem Wasserglas erlosch. "Die Sonne ist weg", rief Wendelin und riss seinem Vater das Kissen vom Bauch. Der Vater seufzte schwer und kroch ein neues Mal aus dem Bett. Dann blickten beide zum Himmel empor. Die Wolke war davongeschwebt. Der Hase saß noch immer auf dem Hügel, grinste fröhlich und tat wie einer, der darauf wartet, daß der Himmel auf die Erde fällt. Und über seinem Kopf hing nach wie vor die Sonne: groß und rund und honiggelb. "Jetzt müssen wir sie retten", schrie Wendelin. "Wir steigen auf den Berg und scheuchen den Hasen weg." Und schon marschierte er los - in seinem Nachthemd und barfuß. Ein kleiner Spaziergang kann nicht schaden, dachte der Vater und marschierte mit.
Sie stiegen auf den Gänseblümchenberg - leiser, als ein Spinnfaden fällt. Unter der Hügelspitze legten sie sich wie Indianer hinter einen Busch. Wendelin klaubte einen Brocken Erde auf und warf ihn auf den Hasen. Der Brocken traf den Hasen dort, wo er am kitzligsten war: unter dem linken Vorderbein.
Da fing er laut zu lachen an. Seine Ohren wackelten auch. Um ein Haar wäre ihm die Sonne entschlüpft. Aber dann hörte er plötzlich auf, stand wieder fest wie ein Baum und schaute weiter in die Welt.
Da sagte der Vater mit grimmiger Stimme: "Jetzt erschrecken wir ihn, egal, was passiert. Ich zähle bis drei, und dann rennen wir los. Ich wette, daß er lange Beine machen wird." Da hörten sie, wie jemand sang. Es war Karlinchen, die kleine Schwester, die den beiden heimlich nachgeschlichen war. Sie hatte unterwegs Blumen gepflückt: Margeriten, Heckenrosen, Glockenblumen und Gänseblümchen und hielt den ganzen Sommer im Arm.
Karlinchen sang: "Sonne, Sonne, bleib mal stehen, will in deine Augen sehen. Hast du gelbe oder schwarze, weiße oder graue, grüne oder rote oder etwa himmelblaue?" Der Hase über ihr spitzte erst das linke Ohr und dann das rechte. Karlinchen sang so schön, daß er bei der ersten Zeile seinen linken Löffel senkte, um besser hören zu können. Und bei der letzten Zeile klappte er sogar den rechten Löffel ein.
Da war die Sonne frei. Sie schwebte über ihnen: groß und rund und honiggelb. Und als das Lied zu Ende war, hoppelte der Hase gemütlich davon. "Das wäre geschafft", sagte der Vater erleichtert. "Jetzt können wir endlich frühstücken gehn. " Wendelin aber kletterte auf den Hügel und streckte seine kleinen Hände zur Sonne empor. "Du hast recht", sagte er. "Die Sonne ist für den Hasen ein bisschen zu hoch." "Und auch für Knirpse wie dich", rief Karlinchen und winkte der Sonne zu, die weit im Weltenraum flog.
Die Sonne lachte über die Hasenjäger und weil man mit einem Lied im Ohr überhaupt nicht traurig sein kann.
(Alfred Könner)

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