Geschichten

Entenliesel

Erntezeit ist es. Es summt und klingt auf den weiten Feldern und im Dorf. Am Anfang des Dorfes stehen sieben bunte Bauernhäuser. Liesel wohnt im bunten Bauernhaus am kleinen Teich. Dort stehen drei Weiden und die Hütte des Hundes Lux. Aber Lux liegt nicht an der Kette. Er ist ein kluger Hund. Er beisst keine kleinen Kinder und lässt auch den Briefträger in Ruhe. Liesel balgt sich gern mit ihm. Es ist frühe Mittagszeit. Liesel sitzt auf der grünen Bank vor dem Haus. Sie gibt ihrer Puppe aus dem Milchfläschchen zu trinken. "Nun trink schön, damit du groß und stark wirst", sagt Liesel.
Da kommt die Mutter aus der Tür gelaufen und sagt: "Hör zu! Die bunte Kuh bekommt ein Kälbchen. Ich will zum großen Stall, helfen." Ein Kälbchen, denkt Liesel. Und sie fragt: "Kann ich mitkommen?" "Nein, Lieselchen", sagt die Mutter. "Du passt bitte auf die kleinen Entlein auf. Der Stösser fliegt über den Weiden. Das ist ein Räubervogel. Der will die Entlein holen. Pass gut auf!" "Ja", sagt Liesel. Und die Mutter huscht weg wie ein Wirbelwind. Liesel aber ist ganz allein mit Lux. Des Nachbars Fritz ist in der Schule. Die Bäuerinnen und Bauern arbeiten auf dem Feld. Und Liesels Bruder Hein auch. Er brummt mit dem großen Mähdrescher über den Acker.
So steht Liesel am Teich mit einem kleinen Stöckchen in der Hand und sagt: "Hule, hule, alle meine Entlein." Ab und zu guckt sie über die Weidenbäume nach dem Stösser. Auch Lux sieht nach dem Stösser. Er sieht auch auf die Entlein. Lux passt scharf auf. Liesel aber wippt mit ihrem Stöckchen und ruft: "Hule, hule, alle meine Entlein."
Als ein halbes Stündchen vergangen ist und der Stösser nichts tut, wird es ihr langweilig. Sie guckt ein bisschen trantütig durch den Zaun. Da kommt die Landstrasse entlang ein großes, ratterndes, freundliches Ungetüm: der Mähdrescher. Das ist eine mächtige, hohe, gelbfarbene Maschine auf Rädern. Sie hilft den Bauern. Sie besorgt die Arbeit von hundert Menschen. Eine richtige Zaubermaschine ist das. Sie mäht das Getreide, drischt es, füllt das Korn in Säcke und bündelt das Stroh. Da braucht der Müller nur noch das Korn zu mahlen. Dann kann duftendes Brot gebacken werden. Liesel weiß das, und sie winkt ihrem großen Bruder Hein mit beiden Händen. Hein lenkt den Mähdrescher. Er passt gut auf, dass er keine Gänse überfährt. Liesel winkt und lacht.
Plötzlich hört sie lautes Bellen und aufgeregtes Schnattern. Sie dreht sich um und bekommt einen großen Schreck: Nach allen Seiten sind die Entlein auseinander gewatschelt. Der Lux aber steht am Teich und bellt und bellt. Und der Stösser fliegt flüchtend über die Weiden. Er wollte die Entlein rauben. Lux hat den bösen Stösser verjagt. Liesel springt schnell zum Teich. Hastig und angstvoll treibt sie ihre Entlein zusammen. Aber der Stösser ist nicht mehr zu sehen. Lux steht groß vor seiner Hütte. Nun zählt Liesel ihre Entlein. Sie zählt mit den Fingern mit:" 1, 2, 3, 4, 5, 6." Ja, sechs Entlein. Ein Entlein fehlt. Da ist sie wütend über ihre Unachtsamkeit, zornig auf den Stösser und voll Trauer um das kleine Entlein. Zwei dicke Tränen hat Liesel in den Augen.
Sie geht ganz langsam zu Lux und sagt: "Guter Lux." Aber Lux der Gute und Freundliche, knurrt. "Was hast du?" fragt Liesel. "Bist du böse?" Sie hört ein schüchternes, verstecktes Entenschnattern. Ganz leise ist es und kommt von Lux her. "Ja, Lux!" ruft Liesel erschrocken. "Hast du das Entlein gefressen?" Da ist der Lux beleidigt. Er geht steifbeinig zur Seite. Und Liesel? Liesel sieht im Stroh der Hundehütte das kleine piepsige Entlein, das siebente. Lux hatte es bewacht. "Ach, du guter Lux!" sagt Liesel noch mal. Sie schämt sich ein bisschen vor dem Hund.
Dann trägt sie das siebente Entlein behutsam zum Teich. Im Teich schwimmen die sechs anderen Entlein und stecken fröhlich den Steert in die Höhe. Liesel ist wieder glücklich und bewacht die Entenkinder. Bald darauf kommt die Mutter mit anderen Bäuerinnen und Bauern vom großen Stall herüber. Auch der Hein ist dabei. Und Fritz mit der Schulmappe.  "Na, du Entenliesel!" ruft Hein. Und die Mutter fragt: "Hast du brav aufgepasst?" Liesel sagt mit ganz kleiner Stimme: "Ich nicht. Aber Lux." Da lachen die anderen, und die Mutter sagt: "Die Bunte hat ein Kälbchen bekommen. Ein buntes Kälbchen mit langen Staksbeinen. Du darfst es dir morgen ansehen."
(Fred Rodrian)

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